Von Igor Štiks
Der Beginn des Aufbaus einer «Neuen Linken» im ehemaligen Jugoslawien kann auf die Finanzkrise von 2008 datiert werden. Diese Krise hat, nach zwei Jahrzehnten ideologischer Hegemonie neoliberaler und rechtsradikaler politischer Akteure,langsam aber kontinuierlich den Raum für eine öffentliche Artikulation antikapitalistischer Kritik im postsozialistischen Balkan eröffnet.
Wie können wir die «Neue Linke» aber beschreiben?
Die postjugoslawische «Neue Linke»ist kritisch gegenüber dem bestehendenParlamentarismus, sie tritt mehrheitlich für eine direkte, partizipatorische und horizontale Demokratie ein. Sie artikuliert Kritik an der sogenannten postsozialistischen «Transition», die zu enormen Ungleichheiten und massiver Arbeitslosigkeit und Armut geführt hat, und weiterhin führt. Sie stellt sich gegen die dominierende konservative, religiöse, patriarchalische und nationalistischeIdeologie. Sie verteidigt gemeinsame und öffentliche Güter, einschließlich der natürlichen Ressourcen, und sie verteidigt die Überreste des sozialistischen Wohlfahrtsstaates gegen die fortschreitende Privatisierung und Ausbeutung. Schließlich vertritt sie einen internationalistischen, d.h. antinationalistischen und antifaschistischen Ansatz für den postjugoslawischen Raum, aber auch für die gesamte Balkanregion.
Illustration: škart
Privatisierungen, Korruption, Armut, Vernachlässigung oder Zerstörung von öffentlichen Gütern – all diese Themenbeschäftigen auch weiterhin die öffentliche Meinung, was zu teilweise massiven Mobilisierungengeführt hat. In den letzten zehn Jahren sind mehrmals spontane Bewegungen gegen die grassierende soziale Ungerechtigkeit und konkrete Regierungspolitiken entstanden. Diese Bewegungen drückten ihre Empörung aus, ohne notwendigerweise eine artikulierte linke Agenda zu besitzen.Die Radikalisierung von Teilen der Demonstrant_innen sowie von Teilen der Öffentlichkeit hat dazu beigetragen, dass linksgerichtete Organisationen, Gruppen, Medien, Versammlungen, ja sogar Parteien entstanden sind. Innerhalb und durch diese multiplen Kämpfe entwickelt sich auch die «Neue Linke».
Straßenproteste
Anfang 2011 sind z.B. in Kroatien bis zu 10.000 Menschen, die meisten über Facebook mobilisiert, gegen die damalige Regierung auf die Straße gegangen.Dieser Protestmarsch wurde einen ganzen Monat lang jeden Abend wiederholt. Im November und Dezember 2012 protestierten in der slowenischen Stadt Maribor tausende gegen ihren korrupten Bürgermeister.
Die größten und radikalsten Proteste fanden jedoch im Februar 2014 in Bosnien-Herzegowina statt. In der Stadt Tuzla schlossen sich Arbeiter_innen der lokalen Waschmittel- und Möbelindustrie, die seit Monaten kein Gehalt ausgezahlt bekommen hatten, mit Studenten, Arbeitslosen und unzufriedenen Bürgern zusammen. Die Proteste wuchsen rasch an und verwandelten sich in gewaltsame Zusammenstöße mit der Polizei; bald wurde auch das Gebäude der örtlichen Kantonalregierung in Brand gesetzt. Am nächsten Tag breiteten sich die Proteste auf weitere Großstädte aus, darunter auch die Hauptstadt Sarajevo, wo das Rathaus und derSitz des Staatspräsidenten in Brand gesetzt wurden. Sowohl in Groß- als auch in Kleinstädten organisierten sich die Demonstrierendenin sogenannten Plenen, ein Akt der Selbstorganisation von Bürger_innen, die mehrere Monate anhielt.
Der Kampf um Commons
Der freie Zugang zum öffentlichen Raum ‒ Plätze, Parks, Straßen und Gebäude ‒betrifftgroße Teile der Gesellschaft, und löst dementsprechend auch emotionale und politische Reaktionen aus. Aus Opposition gegen ein großes Stadtentwicklungsprojekt in der Zagreber Fußgängerzone [Varšavska ulica] und einem der am meisten frequentierten Innenstadtplätze [Cvjetni trg], gründete sich die Bewegung «Recht uf Stadt»[Pravo na grad].Die Protestierenden prangerten Korruption, Gentrifizierung und Einzäunungen, sowie den Zusammenhang zwischen Privatkapital und Stadtregierung an. In der Stadt Banja Luka in Bosnien-Herzegowina entwickelte sich 2012 eine ähnliche Bewegung gegen die Zerstörung und Umwandlung eines beliebten Parks [Picin Park] in eine Wohnanlage.
Ähnliche Szenarien konnten auch in Belgrad beobachtet werden, wo örtliche Aktivist_innen unter dem Slogan «Wir lassen Belgrad nicht absaufen/Wir geben Belgrad nicht her»[Ne da(vi)mo Beograd]seit Jahren versuchen, die Durchsetzung des Megaprojektes «BelgradeWaterfront» zu verhindern. Das Projekt wird politisch und finanziell von der serbischen Regierung unterstützt,umfasst ein riesiges Gebiet um das innenstadtnahe Save-Ufer, und beinhaltet den Bau luxuriöser Wohnungen, einer Shopping-Mall, einem Kasino etc. Dieses undurchsichtige Projekt, von einer Reihe Unregelmäßigkeiten und illegalerMachenschaften begleitet, provozierte einen breiten öffentlichenWiderstand und Massenproteste auf Belgrads Straßen. Belgrader Aktivist_innen und Künstler_innen protestierten inden Jahren 2014 und 2015 auch gegen die Zerstörung öffentlicher Plätze und die Marginalisierung von Kunst und Kultur, beispielhaft etwa durch die Okkupation des privatisierten und stillgelegten KinosZvezda.
Auf sehr ähnliche Art und Weise bildeten sich auch mehrere Basisinitiativen gegen die Zerstörung natürlicher Ressourcen. Die Bewegung «Srđgehört uns»[Srđ je naš] aus Dubrovnik versuchte 2010/13, die Privatisierung von Teilen des Hügels «Srđ» über Dubrovnik und seine Umfunktionierung zu einem elitären Golfplatz zu verhindern.
Dem während der Proteste von 2014 in Bosnien-Herzegowina gebildetem Aktivist_innen-Netzwerk «Bosnischer Frühling» in der Stadt Bihać gelang es, die kommerzielle Ausbeutung des Flusses Una zu verhindern. Diese und weitere, ähnliche lokale Initiativen wenden sich gegen den angekündigten Bau von hunderten kleinerStaudämmeauf den Flüssen der gesamten Region.
Der Kampf um Bildung
Die wohl wichtigste Bewegung für die «Neuen Linke» ist jedoch mit dem Widerstand gegen die Kommerzialisierung und Privatisierung des Hochschulwesens verbunden. In Verteidigung des allgemeinen und kostenlosen Bildungszugangs, entwickelten sich in fast allen post-jugoslawischen Staaten starke Studentenbewegungen, die mit Formen direkter Demokratie experimentierten.Ein bedeutendes Ereignis diesbezüglich war die Besetzung von Universitäten in Kroatien im April und November 2009, wo studentische Plenen als allgemeine Versammlungen von Student_innen, Professor_innen und Bürger_innen gebildet wurden. Die Besetzungenformten sowohl die politischen als auch organisatorischen Instrumente für diekommenden Studentenkämpfe in der Region. Ähnliche Fakultätsbesetzungen fanden 2011 in Ljubljana, 2011 und 2014 in Belgrad und schließlich 2014-2015 in Mazedonien statt. Studentenproteste haben auch in Bosnien-Herzegowina, Montenegro und Kosovo stattgefunden.
Der Kampf um Arbeit
Auch eine neue Phase des Arbeiter_innen-Aktivismus kann im letzten Jahrzehnt beobachtet werden, einige Arbeiterinitiativen taten sich mit den Studenten- und Stadtbewegungen, linken Gruppen, prominenten Einzelpersonen, Künstler_innen und Intellektuellen zusammen. Die Arbeiter_innen einiger privatisierter oder bankrotter Firmen und Fabriken protestierten öffentlich, um die Öffentlichkeit auf ihre Probleme aufmerksam zu machen.
Dies war etwa Fall mit den Arbeiterinnen der Zagreber Textilfabrik Kamensko und denArbeiter_innen der im bosnisch-herzegowinischen Tuzla beheimateten Waschmittelfabrik Dita. Während die Kamensko-Arbeiterinnen bei ihren Versuchen, ihre Arbeitsplätze zurückzugewinnen, erfolglos blieben, gelang es den Dita-Arbeiter_innen, die Produktionsmaschinen zu erhalten, die Gerichte zum Handeln zu bewegen und die Produktion im Sommer 2015 wieder aufzunehmen.
In Nordkroatien besetzten die Arbeiter_innen von Itas-Prvomajska ihre bankrotte Fabrik, nahmen die Produktion selbständig wieder auf und experimentierten mit Elementen von Selbstverwaltung und direkter Arbeiterkontrolle. In anderen Fällen, wie der Petrochemie-Fabrik im kroatischen Kutina, kämpfen die dortigen Arbeiter-innen darum, den Staat als Mehrheitseigentümer zu erhalten. In Serbien hingegen mussten Arbeiter_innen des Pharmaunternehmens Jugoremedija aus dem nordserbischen Zrenjanin viele Schlachten schlagen, auch gegen die Polizei, um einen völlig korrupten Privatisierungsprozess zu verhindern.
Wahlen und Wahlkämpfe
Die Umwandlung dieser oft kurzlebigen, wenn auch teilweise spektakulären Bewegungen in politische Parteien und erfolgreiche Wahlkampagnen war bisher nur in Slowenien erfolgreich. Die Partei Levica, inspiriert vor allemdurchSyriza, wurde 2017 aus zwei kleineren linken Initiativen und Parteien gebildet. Bei den Europawahlen im Jahr 2014 gewann sie, damals noch unter dem Namen «Vereinigte Linke»[Združena levica], bereits 5,5% der Stimmen (jedoch nicht genug, um ins Europäische Parlament einzuziehen), aber ein paar Monate später erzielte sie bei den slowenischen Parlamentswahlen 6% und somit 6 Parlamentssitze. Bei den Wahlen im Jahr 2018 war das Ergebnis sogar noch besser: sie gewann 9,33% der Stimmen, gleichbedeutendmit9 Sitzen. Besonders gut schnitt Levica in der Hauptstadt Ljubljana und anderen urbanen Zentren ab.
Einige linke Akteure mobilisieren vornehmlich auf kommunaler Ebene. Bei den Kommunalwahlen in Zagreb im Jahr 2017 erzielte die links-grünePlattformZagreb je naš[Zagreb ist unsers] 7,56% und trat mit 4 Sitzen in das Kommunalparlament ein. Ein ähnlicher Versuch bei den Belgrader Wahlen im Jahr 2018 durch die Initiative Ne da(vi)mo Beograderreichte erstaunliche 3,44%, scheiterte jedoch an der 5%-Hürde.
Erfolge und Niederlagen der postjugoslawischen Linken
Seit 2008 sind die Akteure der «Neuen Linken» definitiv in die politischen und sozialenAuseinandersetzungen der postjugoslawischen Gesellschaften eingetreten. Wo sich verschiedene Akteure, wie etwa im Februar 2014 in Tuzla, zusammenschlossen, war das Ergebnis durchaus beeindruckend und führte zu Friktionen innerhalb des dominanten politischen Mainstreams. Die «Neue Linke» hat die nationalistische, konservative und neoliberale Hegemonie herausgefordert und über ihre eigenen Organisationsstrukturen, linke Medien, Festivals und öffentliche Versammlungen einen Raum für die öffentliche Präsenz linker Ideen geschaffen.
Es gab und gibt jedoch auch viele Fehler. Die single-issue-Kämpfe sind nicht unbedingt miteinander verbunden. Städtische Initiativen sind nicht immer an Arbeiterkämpfen interessiert, während Studenten und Professoren häufig nicht über den Wissenschaftsbereich hinausgehen. Die Versuche, eine nachhaltige und breitere Bewegung oder stärkere politische Linksparteien zu bilden, die die etablierten politischen Organistionen und Strukturen herausfordern, oder die kommunale, regionale und staatliche Politik beeinflussen könnten, haben sich bisher, außer in Slowenien, als erfolglos erwiesen.
Kurz gesagt, die «Neue Linke» schaffte einen überraschenden Durchbruch in einer Region, die geprägt war (und ist) vom schweren Erbe des besiegten Sozialismus, dem Zerfall Jugoslawiens, zerstörerischen Bürgerkriegen und einer harten kapitalistischen «Transition». Wie anderswo auch,kann die Linkezu einer wichtigen politischen Kraft werden, vorausgesetzt sie lässtinterne Rivalitäten hinter sich und beginnt, die Voraussetzungen für eine Zukunft zu schaffen, die gemäß ihren proklamierten Idealen demokratisch und sozialistisch gestaltet ist.
Zum Autor: Igor Štiks ist Politologe, Schriftsteller und Aktivist und lebt in Belgrad.
Weiterführende Literatur:
- Ana Veselinović (2018): Und wo ist die Politik geblieben? Die Wahlen in Belgrad im Zeichen des Kultes um Aleksandar Vučić, abrufbar online unter: https://www.rosalux.rs/bhs/node/1251
- Luka Matić (2018): Democratic Socialists Advance in Slovenia, abrufbar online unter: https://www.rosalux.rs/en/democratic-socialists-advance-slovenia
- Krunoslav Stojaković (2018): Nationalismus, Kapitalismus und die Krise der Repräsentation. Bemerkungen zu den Wahlen in Bosnien-Herzegowina, abrufbar online unter: https://adamag.de/bosnien-herzegowina-parlamentswahl-balkan-demokratiekrise
- Igor Štiks/Srećko Horvat (2014): Welcome to the Desert of Post-Socialism. Radical Politics After Yugoslavia. London/New York: Verso.
- Vedrana Bibić/Andrea Milat/Srećko Horvat/Igor Štiks (2013): The Balkan Forum. Situations, Struggles, Strategies. Zagreb/Beograd: Bijeli val & Rosa-Luxemburg-Stiftung Southeast Europe.